Making of a murderer
oder Wie ein Chatbot eine Persönlichkeit erhält

1. September, 2020 | Leonid Sokolov

Der Tatort: Ein Büroloft in Berlin-Kreuzberg. Große Fensterfront, Klinkerwände, viel Glas
Die Täter und Opfer: Das gesamte Team
Die Meldung: „Ein klarer Fall von Stockholm-Syndrom: Nachdem die Belegschaft an einem Freitagnachmittag Opfer eines mehrstündigen Workshops wurden, wollten dennoch mehrere Personen sich an Flipchart-Konversationen ausprobieren anstatt ins Wochenende abzutauchen.“

Die ganze Geschichte

Conversational User Interfaces (CUI) gehören immer mehr zum Alltag. Über 50 Millionen Haushalte besitzen bereits einen Smart Speaker und die meisten der drei Milliarden Smartphones weltweit haben Zugriff auf Siri (Apple) oder Google Assistent. Wenn wir mit ihnen schreiben oder sprechen kommunizieren wir mit einem Charakter. Dieser Charakter muss nicht wie Siri, Namen und Geschlecht haben, siehe Google Assistant, aber es muss einen „sound“ geben, einen Tone of Voice, den man wieder erkennen kann.

Wie findet man diesen Tone of Voice? Wie sorgt man dafür, dass „Tone“ und „Brand“ zusammenpassen? Eine Methode haben wir in unseren Chatbot-Prototyping Workshop ausprobiert. Ziel des Workshops war, dass am Ende ein (menschlicher) Chatbot von der jeweils anderen Gruppe „getestet“ werden konnte.

Das benötigte Equipment und Setting

Schritt 1: Ein Business finden oder erfinden

⏱ 30 min

Es gibt zwei Arten loszulegen. Entweder man nimmt ein bestehendes Business und versucht dafür eine Chatbot-Persona zu entwickeln oder man erfindet ein Business. Wir haben beides probiert: Gruppe 1 arbeitete mit einem existierenden Business, mit dem bereits eine Zusammenarbeit besteht. Gruppe 2 dachte sich ein Business aus. Diese Gruppe begleiten wir hier.

Fake it. Die Gruppe mit dem erfundenen Business war kreativer, hatte mehr Spaß und konzentrierte sich mehr auf Struktur und Methoden, anstatt auf Details und Realisierbarkeit.

Die Gruppe ohne reales Vorbild-Business steht vor einem leeren Flipchart und hat 10 Minuten, um eine Businessidee zu generieren. Erste stockende Ideen aus dem Versandhandel: Blumenversand, Tierfutterversand, Tierspielzeugversand. Blumenvasen mit individuellem Blumenmotiv. Dann der Shift Richtung Service Economy: Hundesittervermittlung, Klageweibervermittlung, Ghostwritervermittlung. Die ganz große Begeisterung bleibt aus. Noch 3 Minuten bis zum Ende des ersten Teil. Nun hat jedes erfolgreiche Unternehmen mindestens einen Mitarbeiter, der ausschließlich schwarz trägt und einen trockenen Humor pflegt. Unserer schlurfte gerade durch den Raum. „Das ist doch nichts. Traut euch doch ein bisschen Wumms zu. Mord. Mafia sowas.“ Bingo! Auftragskillervermittlung. Die Stimmung vor der Flipchart schlug von Ratlosigkeit in Spannung um. Wer könnte der Mörder sein?

⏱ 5 min / Tabellenfeld; erweiterbar

Das Business

Brandname: Death2go
Tasks and Services: : Todesdrohungen, Artistic Kills, Friends & Family, Rosenkrieg, Ex-Spezial, Tatortreinigung, Rache, 3 für 2, Tiere, Tatortdekoration und -manipulation
Brand Values: individuell, freundlich, präzise, seriös, zielorientiert, diskret

Der Chatbot

Tone of Voice: verständnisvoll, familiär, siezen, traditionell, metaphorisch, italienisch, lebenserfahren
Persona: Vorbild Marlon Brandos Charakter „Don Corleone“ aus dem Film „Der Pate“; männlich, ca. 50 Jahre alt, mit einer sonoren Stimme, leichtem italienischen Akzent und leicht säuselnden Sprachmelodie
Name: nach der Lieblings-Pizzeria eines Teilnehmers „Don Giovanni“

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Schritt 2: Eine User-Persona entwickeln

⏱ 30 min

Um den Chatbot auszuprobieren, also das Mockup einer Konversation zu schreiben, braucht man nun als Sparring-Partner einen User. Dafür entwickelt man eine User-Persona mit einem Ziel, dem sogenannten User-Task. Alle Teammitglieder dürfen im Anschluss abstimmen, welche User-Story verprobt wird. In diesem Fall war das Ziel des Users klar – jemand muss sterben. Aber was ist der Kontext? Fünf Minuten Ideation ergaben folgende Möglichkeiten der User-Story:

Das Team war warmgelaufen und generierte Ideen auf Hochtouren. Nach einer Timebox von 10 Minuten war die Situation allen klar.

Die Story

Tim, 42 (verheiratet, 2 Kinder), IT-Hausmeister in einem Immobilienkonzern. Tim sollte alle Feuerlöscher der Etage nach einer neuen Brandschutzrichtlinie 10 Zentimeter höher hängen. Eine Mitarbeiterbesprechung ist im Gang als Tim einen weiteren Feuerlöscher in die neue Fassung einhängen will. Plötzlich fällt etwas herunter. Ausgerechnet dann als der Chef gerade von seinem Maserati erzählt. Der dreht sich zu Tim um und demütigt ihn vor versammelter Mannschaft. Der Chef wirft weitere drei Feuerlöscher um und droht mit der Kündigung. Sein größtes Verhängnis: dass Tims Augen währenddessen die der attraktive Paula von der Buchhaltung treffen.  

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Schritt 3: Einen Happy-Flow formulieren, damit der User sein Ziel erreichen kann 

⏱ 30 min

Welche Informationen braucht der Bot, um das Ziel des Users zu erfüllen? Unser Gentleman-Mörder-Bot braucht die gleichen Informationen, wie später der Reporter: Wer? Wann? Wo? Und Wie?  

Wie soll der Chatbot die Konversation führen, um an diese Informationen zu gelangen? In welcher Reihenfolge? Mit welchen Sätzen? In diesem Schritt lässt sich das überlegen und ausprobieren. Dabei müssen wir immer den Tone of Voice unserer Chatbot-Persona im Auge behalten.   

verständnisvoll, familiär, siezen, traditionell, metaphorisch, italienisch, lebenserfahren

Da unser Chatbot gerne in Metaphern spricht, sammeln wir zunächst relevante Metaphern: 

Ermorden/ Sterben: Urlaub machen, verreisen, ein Nickerchen machen, ein Schläfchen machen, sich hinlegen, ausruhen, einen Anzug tragen, ein Unglück [erleiden], an einem besseren Ort sein, sich später wiedersehen

Todesarten: etwas derangiert aussehen, feucht oder trocken?, in Gesellschaft, ich habe gehört, er konnte nicht bremsen, ein Unfall, plötzlich, unverhofft, unerwartet, usw. 

Finanzielles: Meine Tochter möchte eine Hochzeit feiern, erst den Kuchen anschneiden, dann das Kleid kaufen, eine Kreuzfahrt machen, ein Erbe annehmen, investieren

Ein Beispielflow 

Der Beispielflow gibt der Gruppe einen Eindruck davon, wie man den Tone of Voice in einer User-Interaktion hörbar macht. 

Begrüßung

„Guten Abend, danke für Ihren Anruf. Möchten Sie sich informieren oder gleich mit Don Giovanni sprechen?“    

„Guten Abend, wir haben auf Ihren Anruf gewartet. Soll ich Sie verbinden, oder soll Don Giovanni Sie zurückrufen?“

„Sie wurden von Don Giovanni bereits erwartet. Einen Augenblick, Sie werden verbunden.“

Hauptflow

„Machen Sie sich keine Sorgen. Ein kleines Schläfchen hat noch keinem geschadet. Wer möchte denn das Nickerchen machen?“ (Wer?) 

„Mein Chef.“ 

„Wie heißt er denn?“  

„Ansgar Maier“ 

„Wo legt sich Herr Maier denn gerne hin?“ (Wo?) 

„Im Büro“ 

„Si, ich verstehe. Im Büro werden viele so schrecklich müde. Ruht Herr Maier sich denn lieber alleine aus, oder unter Leuten?“  

„Es wäre schön, wenn die Kollegen dabei sein könnten“ (Wie?) 

„Ich verstehe, die Arbeit lässt ihn nicht los. Bene. Um welche Uhrzeit könnte ich ihn erreichen, denken Sie?“ 

„Gleich nach der Mittagspause wäre gut.“ (Wann?) 

„Si Maestro, ich verstehe. Nach dem Essen schläft man besonders gut. Ich habe einen Cousin, der schwitzt im Schlaf so sehr, dass alles nass wird. Ist das bei Herrn Maier auch so?“ 

„Unbedingt. Er soll viel schwitzen sagen die Ärzte.“ 

„Ich verstehe. Grazie. Hatten Sie schon mal Erdbeerflecken? Die bekommt man so schwer raus… Aber Herr Maier bekommt ja einen neuen Anzug. Haben Sie denn noch Ideen für ein kleines Präsent für den Signor?“ 

„Ein Feuerlöscher wäre gut.“ 

[…] 

Schritt 5: Die andere Gruppe testet den Chatbot 

⏱ 2 x 20 min

Es wird eine Person aus der Gruppe ausgewählt, die den Chatbot mitentwickelt hat. Diese Person nimmt die Rolle des Chatbots ein. Eine weitere Person aus der anderen Gruppe wird ausgewählt, um den Chatbot zu „testen“. Dem Team werden User-Persona und User-Story vorgestellt. Die Gruppe, die den Chatbot entwickelt hat, notiert die Konversation. Der „Chatbot“ selbst versucht mit möglichst vielen unveränderten Sätze aus dem Happyflow zu antworten. Dann geht es ins Feedback. Gleiches wird mit der anderen Gruppe wiederholt.

Im Fall von Don Giovanni führte schon die Vorstellung der User-Persona zu großer Heiterkeit bei der anderen Gruppe. Nicht immer hatte er die Antwort bereits (auf der Flipchart) parat, aber insgesamt bestand er seine Prüfung bravourös. Auch in der Entwicklung echter Chatbot gilt: Humor an den richtigen Stellen kann Unzulänglichkeiten kaschieren.  

Schritt 6: Iterieren 

Je nach Zielsetzung kann es sinnvoll sein, eine weitere Iteration vorzunehmen, in denen dem „User“ erlaubt wird, immer mehr vom Skript abzuweichen. So kann z.B. Error Handling getestet werden, indem der „Chatbot“ mit immer mehr unvorbereiteten Fragen konfrontiert wird. Unser Workshop fiel auf einen Freitagnachmittag. Chatbot und User verabschiedeten sich nach dem ersten Test ins Wochenende. 

Don Giovanni hat bislang keine eigene Telefonnummer bekommen. Die Feuerlöscher wurden im Büro seitdem nicht angerührt. Der Chef besitzt keinen Sportwagen und erfreut sich bester Gesundheit.